Viele Menschen in einem Museum

Russische Namen

Mit Liebe, Wanja und Wladimir Wladimirowitsch

Wie viele Sergejs sind auf diesem Foto?

Vor meinem Aufenthalt in Russland dachte ich: Dort heißen alle gleich.
Diese Annahme basierte darauf, dass meine bisherigen Bekanntschaften aus jenem Land sich einen Kanon von etwa zehn Namen pro Geschlecht teilten. Die gefühlte Hälfte hieß jedenfalls Olga respektive Sergej.
Die Namenseintönigkeit war einer von vielen Punkten auf meiner persönlichen Vorurteils-Liste, die ein zweimonatiger Aufenthalt in Russland auf den Prüfstand stellen sollte.

Stilechte Anreise mit dem Berlin-Moskau Express. Mit der Lesegeschwindigkeit eines Schulanfängers entziffere ich die kyrillischen Buchstaben auf dem Namensschild der Zugbegleiterin: ‚Anastasija‘. Keine Olga, mir fallen aber auf Anhieb vier weitere russischstämmige Anastasias ein.
24 Stunden später holt mich Deutschlehrerin Elena ab. Im Auto wartet ihr Mann Sergej – Bingo.
Von ihr erhalte ich auch die Liste meiner zukünftigen Studenten: Polina, Stepan, Iwan, Irina, Alina, Darija, Wera, Elena, Aleksander und zweimal Julija. Nicht spektakulär, aber dem Deutsch-Muttersprachler doch sehr entgegenkommend. Immerhin laufe ich bei keinem Namen Gefahr, mir die Zunge zu verknoten oder Silben durcheinander zu würfeln.

Am dritten Tag gibt es endlich Grund für einen Eintrag in mein Namens-Sammelbuch. In der Verwaltung der Universität wird mir eine rundliche, gutmütige Frau vorgestellt, die sich für mein Wohlbefinden verantwortlich erklärt. Sie trägt einen Namen, der in meinem russischen Kanon bisher fehlte: Ljubow. Ich befrage Google zu meinem Fund und erfahre, dass Ljubow – ganz passend zu ihrer mütterlich-umsorgenden Art- gleichzeitig das russische Wort für Liebe ist. Diese Vokabel wird in den folgenden Wochen durch die russischen Schlager gefestigt, die an sämtlichen öffentlichen Plätzen aus Lautsprechern plärren. Trotz Dauerbeschallung ist meine Liebe zu Ljubow nicht zu erschüttern: Neben der plakativen Bedeutung gefällt mir besonders der Kontrast zwischen der samtig-weichen ersten Silbe und der etwas härteren Konsonantenendung. Doch leider gleitet der Name als ‚lju-BOW‘ wohl nur so sanft über russischsprachige Lippen – weshalb ich ihn nach meiner Heimkehr in die Kategorie ‚Anhimmeln aus der Ferne‘ stecke.
Ich stoße auch darauf, dass es neben Ljubow noch zwei weitere traditionsreiche weibliche Wortnamen im Russischen gibt. Nadeschda (Hoffnung) entfaltet ihren vollen Klang wohl aber auch am besten aus dem Munde einer Person, die dem Russischen mächtig ist. Wobei Wera (Glaube) im Russischen zwar auch etwas anders klingt (‚Wjera‘), sich in deutschlandtauglicher Entsprechung als Vera* aber schon lange bei uns etabliert hat.

Einige Wochen später bin ich um zahlreiche Bekanntschaften und rudimentäre Russischkenntnisse reicher. Zurück zu meiner Ausgangsvermutung: Heißen denn nun wirklich alle Russen gleich? Auf meiner gedanklichen Strichliste konnte ich erst zwei Olgas und drei Sergejs verbuchen, obwohl ich auch im Supermarkt und auf der Post fleißig auf alle Namensschilder der Angestellten gestarrt habe.
Wie groß ist die Vielfalt denn nun tatsächlich? Ich überarbeite meine Hypothese: Auf jeden Fall ist die Namensvielfalt geringer als in Deutschland. Mein Notizbuch für Namensentdeckungen blieb seit der Begegnung mit der liebenswürdigen Ljubow unangetastet.

Ich beschließe, meine eigenen Vorurteile systematisch auf den Prüfstand zu stellen:
Um meine Behauptung wissenschaftlich zu untermauern, betreibe ich Forschung im russischen Facebook-Äquivalent Vkontakte. Ich durchsuche die Freundeslisten all meiner Kontakte und schreibe sämtliche vorkommenden Vornamen heraus.
Neben den üblichen Verdächtigen stolpere ich bald aber über einige nie zuvor gehörte Exemplare. Der auffallend ungewöhnliche Klang von Aigul, Ilshat oder Salikh erinnert mich daran, dass ich in meinem Vorüberlegungen etwas Wichtiges nicht bedacht hatte: Obwohl die russische Sprache und Kultur von Smolensk im Westen bis Wladiwostok im Osten eine erstaunliche Einheitlichkeit aufweist, ist Russland ist ein Vielvölkerstaat. Neben dem slawischen Volk der Russen, dem sich etwa 80% der Bewohner zuordnen, beherbergt das Terrain des größten Landes der Welt zahlreiche weitere Ethnien, die insbesondere im asiatischen Teil seit Jahrtausenden beheimatet sind.
Die insgesamt über sieben Millionen Tartaren und Baschkiren sind Turkvölker, ethnisch und sprachlich also deutlich enger mit dem Türkischen als mit dem Russischen verwandt. Das bezeugt auch der Klang vieler Namen – Aidar, Marat und Alfija hätte ich unwissend wohl ohne Zögern im Türkischen verortet. Neben den Turkvölkern und Minderheiten aus Ex-Sowjet-Staaten (Ukrainer, Weißrussen, Armenier, Kasachen…) findet man auch zahlreiche finno-ugrische Völker vor, deren Sprachen ihre Wurzeln mit Finnisch, Estnisch und Ungarisch teilen.
In Jahrhunderten des Zusammenlebens und insbesondere im Zuge der Urbanisierung haben sich die Völkergruppen auch oftmals vermischt und so vergeben tatarische oder multiethnische Eltern gelegentlich auch typisch russische Namen an ihre Kinder.
Da ich mich aber im äußersten Westen Russlands befand, einer ethnisch nahezu homogen-russischstämmigen Region, konnte ich die Vornamenstraditionen anderer Ethnien nicht weiter erkunden. Ausgehend von meinen vereinzelten und wie ich finde größtenteils wohlklingenden Funden bin ich mir aber sicher, dass man als Namenssammler im weiter entfernten Tatarstan, Baschkortostan oder Udmurtien häufiger einen Grund dazu hätte, das Notizbuch zu zücken.

Um die Essenz des (slawisch-)russischen Vornamenkanons herauszufiltern, sortierte ich Namen aus, die offensichtlich einer anderen in Russland beheimateten Sprachfamilie und Ethnie entstammen.
Insgesamt liegen meinem amateurhaft ermittelten Kanon also rund 1000 Russen zugrunde. Meinen Ergebnissen zufolge haben werdende Eltern in Russland also die freie Wahl aus folgendem Katalog – 38 Mädchen- und 37 Jungennamen:

Aleksandra Aleksander
Alla Andrej
Alina Anton
Aljona Artjom
Anastasija Artur
Anna Boris
Darija Danil
Diana Denis
Elisaveta Dmitri
Ekaterina Egor
Elena Evgenij
Galina Fjodor
Inna Gennadij
Irina Grigorij
Jana Ivan
Julija Ilja
Juljana Jurij
Kristina Kirill
Ksenija Lew
Larisa Mihail
Ljubov Maksim
Margerita Nikita
Marija Nikolaj
Marina Oleg
Nadeschda Pavel
Natalija Pjotr
Nina Roman
Oksana Ruslan
Olga Sergej
Polina Stanislav
Regina Stepan
Sofija Vadim
Svetlana Vasily
Tatjana Viktor
Valerija Vitalij
Valentina Vladimir
Vera Vladislav
Viktoria  

Neben der geringen Vielfalt an typisch russischen Namen finde ich auch bemerkenswert, dass die Vornamen kaum Trends unterliegen. Meine Vkontaktje-Stichprobe erfasste vorwiegend Namen von unter 30-jährigen, meiner Intuition nach bewegt sich in der russischen Vornamensmode aber nur wenig. Nach Aussagen einiger von mir befragten Russen schwankt die Popularität einzelner Namen innerhalb von Generationen – so scheint die weichklingende Anastasija unter Neugeborenen um einiges häufiger anzutreffen zu sein als unter Rentnerinnen, obwohl der Name auf eine lange Vergangenheit in russischen Herrscherhäusern zurückblickt. Meine liebe Ljubow sowie deren Schwestern Nadeschda und Wera sind hingegen deutlich häufiger unter Damen fortgeschrittenen Alters anzutreffen. Trotz dieser Tendenz zeichnet sich die russische Vornamenswelt aber durch eine weitgehende Zeitlosigkeit aus. Dass ein Vorname innerhalb eines Jahrzehnts boomt und danach fast gänzlich von der Bildfläche der Neugeborenen-Statistiken verschwindet, ist dort nicht der Fall. Ob Valentina und Roman 5 oder 55 sind, lässt sich nicht vorhersagen- was sich in Deutschland von Finn und Birgit nun nicht gerade behaupten lässt. Diese Beständigkeit in der Vornamenswahl rührt zu einem großen Teil auch daher, dass Vornamen häufig Ausdruck von Tradition und Familienzugehörigkeit sind. Viele junge Russen teilen sich ihren Rufnamen mit einem Eltern- oder Großelternteil. Diese Praxis hat in Deutschland nur in Form von stummen Zweitnamen überdauert, und selbst diese werden häufig aus der Generationen der Ur- und Ururgroßeltern entlehnt, deren Namen nach dem Versterben der Träger als Retro-Namen wieder in Mode kommen. Zweitnamen gibt es in Russland nicht und damit auch keine Option, an dieser Stelle auf dezentere Weise eine Tradition fortzuführen oder namenstechnische Wagnisse einzugehen. Die Namensvergabe ist also deutlich weniger ein Ventil für Kreativität und Selbstdarstellung der Eltern. Doch auch bei Russen mit weniger traditionsbewussten Eltern, die die Namensentscheidung rein nach Gefallen treffen, ist das Band zwischen dem Vornamen und der Familie nicht durchtrennbar. Obwohl es keine Zweitnamen gibt, sind auf der Liste meiner Kursteilnehmer drei Spalten für den Namen vorgesehen. Neben Vornamen und Nachnamen ist dort das Patronym verzeichnet– der Vatersname. Dieser wird aus dem Vorname des Vaters gebildet plus einer Endung, in den meisten Fällen –witsch bei Männern und –ewna/-owna bei Frauen. Dimitrij Smirnows Sohn Ivan trägt sich als Ivan Dimotrowitsch Smirnow in die Liste ein. Seine Schwester Anna ist dort als Anna Dimitrowna Smirnowa gelistet – denn die Grammatik der russischen Sprache erfordert es, dass die meisten Nachnamen beim weiblichen Geschlecht die –a Endung erhalten. Der Vatersname ist in der Regel genau so bekannt wie der Familienname, wird in der Ansprache aber deutlich häufiger benutzt: Da es in der russischen Sprache kein Äquivalent für Herr Smirnow und Frau Smirnowa gibt, ist es im förmlichen Umgang üblich, mit Vorname und Vatersname angesprochen zu werden. Der Chef ruft also Anna Dimitrowna zu sich und die Schüler wenden sich mit ‚Iwan Dimitrowitsch‘ an ihren Lehrer. Bezeichnend für den russischen Namenskanon sind auch die festgelegten Spitznamen, die zu jeder Vollform gehören. Wenn ein Mädchen sich als Natascha vorstellt, ist völlig klar, dass in ihrem Pass Natalia steht. Dima und Mischa heißen natürlich Dimitrij und Mihail . Umso schwieriger ist es für Russen zu begreifen, dass manche russische Koseform als vollwertig eingetragener Name einst unter den Top-Namen in Deutschland landete. Eine Anja , die nicht eigentlich Anna heißt, sondern wirklich ‚nur‘ Anja ? Tanja ist in Wahrheit keine Tatjana ? Sonja keine amtliche Sofia ? Sascha kein Alexander ?

An der Stelle erinnere ich mich an eine russlanddeutsche Mitschülerin, die in der 3. Klasse nach Deutschland kam. Ihre Mutter hatte sie der Schulleitung als Katja vorgestellt, wohl unter der Annahme, dass dann jeder wisse, dass ihre Tochter amtlich als Katharina geführt werde. Schließlich wurde sie in allen Listen als Katja aufgeführt und fiel damit unter den zahlreichen Namensvetterinnen ihrer Generation nicht weiter auf. Bis eines Tages unsere Klassenlehrerin entdeckte, dass Katja auf ihre Schulhefte Katharina** geschrieben hatte. „Du heisch Katja, ned Katharina!“, hieß es dann. Wegen unzureichenden Deutschkenntnissen konnte Katja an dieser Stelle den russischen Brauch der Kosenamen nicht erläutern und fügte sich dem Schicksal, den Rest ihrer Grundschulzeit auch amtlich als Katja zu verbringen.

Wie man am Beispiel von Katja sieht, sind diese festgelegten Spitznamen nicht zwangsläufig Ausdruck von familiärer oder freundschaftlicher Intimität, sondern finden auch in öffentlichen Kontexten Gebrauch. Von den Kollegen aus ihrer Abteilung wird Anna Dimitrowna Smirnowa wohl schon am ersten Arbeitstag als Anja angesprochen, obwohl sie das nie explizit angebracht hat. Auch Bruder Iwan und Vater Dimitrij laufen deutlich häufiger unter Wanja und Dima als unter der Vollform ihrer Namen. Im Gegensatz zu Katharina und Sebastian in Deutschland, die sich Kathi und Basti verweigern und stattdessen von Freunden Katha und Sebi gerufen werden wollen, haben Anja, Wanja und Dima keine Wahl – ihre Spitznamen sind unzertrennlich mit der Vollform verbunden. Ein solches Gesamtpaket an Spitz- und Kosenamen ‚erwirbt‘ man in Russland als Träger eines Namens aus obenstehendem Katalog gleich mit.
Neben Spitznamen wie Anja, Dima und Sonja, die auch in distanzierteren Verhältnissen benutzt werden, sofern man eine Person auf gleicher Hierarchieebene anspricht, enthält dieses Paket auch einen nahezu unerschöpflichen Fundus an Kosenamen, die im Kreise von Familie und Freunden verwendet werden. IwanWanja‘ Dimitrowitschs Frau kost ihn wahrscheinlich liebevoll Wanjuscha oder Wanjetschka, Anna Dimitrownas Freund wendet sich ihr mit Anuschka oder Anjetschka zu, während ihre Großmutter sie häufig Anka ruft.
Als Außenstehende ist es manchmal schwierig, zwischen all den Spitz- und Kosenamen, den Durchblick zu behalten. „Stjopa kommt später“, sagt eine Studentin. Wohl ein neuer Kursteilnehmer? Schließlich kommt Stepan herein, der schon von Anfang an dabei war. Stepan – Stjopa erscheint mir noch halbwegs logisch. Aber warum ist Evgenij ein Schenja? Alexandra eine Schura?

Während in Deutschland der Vorname mehrheitlich als hochindividuelle Angelegenheit angesehen wird, die vom Träger bewusst modifiziert werden kann, ist die Kreativität auch im Bereich der Spitz- und Kosenamen in Russland eher begrenzt. Vielmehr sind dort auch diese Ausdruck von Zugehörigkeit zu einer kollektiven Struktur und Zeugnis einer langen Tradition. Mit dem Rufnamen bekommt der Träger eine Reihe wandelbarer Identitäten verpasst, auf die Bezugspersonen auf sämtlichen Formalitätsebenen ohne vorherige Absprache mit dem Träger zugreifen können.
Der Vorname ist in Russland wohl eher wie ein sprachlicher Baustein zu sehen, der abhängig vom Kontext nach feststehenden Regeln angepasst wird. Für einen Russisch-Lerner mögen diese zunächst so undurchsichtig wie die Grammatikregeln für das Beugen der Substantive in sechs verschiedenen Fällen erscheinen. Um auf Russisch kommunizieren zu können, ist ein Wissen über den russischen Vornamenskodex aber nicht weniger wichtig als das Beherrschen der Grammatikregeln.

Wer ist Wladimir Wladimirowitsch? Putin natürlich. Er trägt denselben Vornamen wie sein Vater und mit Sicherheit verteilen sich noch zahlreiche weitere Namensvetter über das weite Land. Wobei er im Kegelclub sicher meistens Wowa, Wowotschka oder Wolodja genannt wird.

Mittlerweile denke ich also: Die heißen fast alle gleich. Vornamen, Spitznamen, Kosenamen und Patronyme sind in der russischen Vornamenskultur stark an Tradition gebunden und fungieren als Ausdruck von Zugehörigkeit. Es sind dann aber doch ein paar mehr Namen als erwartet, die sich die Bewohner des Landes teilen. Und nicht zuletzt existieren noch eine Vielzahl weiterer Namenskulturen zwischen Sankt Petersburg und Kamtschatka.
Obwohl mein Namens-Notizbuch nicht ganz so oft zum Einsatz kam wie auf anderen Reisen: Als Namensinteressierte gab es in Russland für mich eine Menge zu entdecken.

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*Anmerkungen: Russisch benutzt die kyrillische Schrift, bei der Transkription in die lateinische Schrift gibt es verschiedene Varianten. Ich habe mich für die im Deutschen übliche Umschrift entschieden. Während ich Wladislaw und Julija schreibe, würden andere Varianten beispielsweise Vladislav und Julia oder Yuliya schreiben.
**Unter russischen Migranten in Deutschland, insbesondere unter Russlanddeutschen, ist es auch üblich, Vornamen in die in Deutschland verbreitete Form (falls vorhanden) umzuwandeln: Aus Ekaterina und Wladimir werden dann z.B. Katharina und Waldemar.

veröffentlicht von

Marisol

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